Texte zum Palmsonntag (5. April 2020)

Predigttext: Mk 14,3-9

Wochenspruch: „Der Menschensohn muss erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“ (Joh 3,14-15)

Evangelium: Joh 12,12-19

Psalm: 69 (EG 736)

 

Predigt

Liebe Gemeinde,

„Die Tage sind echt lang und anstrengend“ schrieb mir vor ein paar Tagen ein Ehrenamtlicher. Und eine Kollegin sagte: „Da hat man auf einmal fast keine Termine mehr und ich bin trotzdem jeden Abend so müde!“ Ich kann das bestätigen: Gottesdienste, Religionsunterricht, Besuche, Sitzungen, Termine… alles fällt aus. Und trotzdem bin ich am Ende der Tage erschöpft.

Das hat natürlich seinen Grund: Wir müssen viel Ungewohntes machen und Neues ausprobieren. Predigten aufnehmen und auf Youtube hochladen, Videokonferenzen führen, Gebete für Zuhause entwickeln: Alles neu – alles anstrengend. Aber ich denke, es hat noch einen anderen Grund: Der Rhythmus aus Arbeit und Pausen ist durcheinander gekommen. Die gute Stimmung Sonntag nach dem Gottesdienst, dieses Gefühl von: „Jetzt ist die Arbeit getan!“ – fällt aus. Die Viertelstunde im Lehrerzimmer zwischen zwei Religionsstunden – gibt es nicht mehr. Abends den Computer ausschalten in dem Wissen: „Jetzt ist es genug“ – fast nicht mehr möglich, denn wer weiß, ob es genug ist? Ich nicht, ich habe dafür in diesen verrückten Zeiten keine Orientierung, keinen Maßstab mehr.

Je länger die Krise geht, umso mehr merke ich, dass mir die Pausen fehlen. Die leichten, unbeschwerten Momente, in denen nichts zählt als ganz da zu sein, durchzuatmen und zu genießen.

 

Wie gut, dass uns der heutige Predigttext von so einem Moment erzählt. Die Geschichte steht im Markusevangelium, im 14. Kapitel. Jesus ist nach Jerusalem eingezogen, bejubelt und bestaunt von den Menschen. Seine Feinde aber schmieden schon Pläne, ihn zu verhaften und umzubringen, die Situation spitzt sich immer mehr zu. Und dann geschieht folgendes:

 

Jesus war in Betanien. Er war zu Gast bei Simon, dem Aussätzigen. Als er sich zum Essen niedergelassen hatte, kam eine Frau herein. Sie hatte ein Fläschchen mit Salböl dabei.

Es war reines kostbares Nardenöl. Sie brach das Fläschchen auf und träufelte Jesus das Salböl auf den Kopf. Einige ärgerten sich darüber und sagten zueinander: »Wozu verschwendet sie das Salböl?

Das Salböl war mehr als dreihundert Silberstücke wert. Man hätte es verkaufen können und das Geld den Armen geben.« Sie überschütteten die Frau mit Vorwürfen.

Aber Jesus sagte: »Lasst sie doch! Warum macht ihr der Frau das Leben schwer? Sie hat etwas Gutes an mir getan. Es wird immer Arme bei euch geben, und ihr könnt ihnen helfen, sooft ihr wollt. Aber mich habt ihr nicht für immer bei euch. Die Frau hat getan, was sie konnte: Sie hat meinen Körper im Voraus für mein Begräbnis gesalbt. Amen, das sage ich euch: Überall in der Welt, wo die Gute Nachricht weitergesagt wird, wird auch erzählt werden, was sie getan hat. So wird man sich immer an sie erinnern.« (Markusevangelium, Kapitel 14, Verse 3-9; Basisbibel)

 

Jesus wusste, dass er sterben würde. Sie alle wussten es. Er hatte es oft genug angekündigt. Jede gemeinsame Mahlzeit konnte die letzte sein. Entsprechend ernst und bedrückt ist die Stimmung. Und dann kommt diese Frau, platzt einfach rein in die angespannte Atmosphäre mit ihrem wunderbar duftenden Nardenöl – und alles wird anders.

 

Das ist nur ein kurzer Moment, von dem der Predigttext uns heute erzählt. Ein Moment voll Zärtlichkeit. Eine kleine Geschichte von einem verschwenderischen, freigiebigen, überschwänglichen Geschenk. Von einem Lichtblick im Dunkel. Von einer kleinen Pause im bitteren Alltag.

Die Anwesenden können das nicht annehmen, sie schimpfen über die Verschwendung. Und ich fühle mich ertappt: Alles gut durchplanen, aufrechnen und überlegen, wie wir Zeit, Geld und Arbeitskraft gut einsetzen können – das mache ich doch auch dauernd. Und ja, ich wäre auch zusammengezuckt. 300 Silberstücke, das war der Jahresverdienst eines einfachen Arbeiters. So viel Geld.. was hätte man damit nicht alles Gutes tun können?!

Grade jetzt, in der Krise, müssen wir doch planen, kalkulieren, rechnen. Grade jetzt müssen wir doch machen und tun und aktiv werden… Und je länger es geht, umso mehr merke ich, wie mich das stresst – dieses „grade jetzt“, die vielen tollen Pläne und guten Projekte und sinnvollen Angebote. Ich frage mich, ob dahinter nicht manchmal auch Angst steckt. Angst und Überforderung. Auch die Freunde von Jesus reagieren vielleicht so ungehalten, weil sie Angst hatten und überfordert waren. Alles ist anders, alles ist unsicher. Da ist es leichter, sich in Planen und Rechnen zu flüchten als sich die eigene Angst und Unsicherheit zuzugestehen. Da ist es leichter, sich über andere aufzuregen, als die eigene Verletzlichkeit zu ertragen.

Die Geschichten von Jesu Leid und Tod erzählen uns ja genau das, was wir in der aktuellen Zeit erleben: „Ihr Menschen seid verletzlich. Ihr könnt planen und rechnen und euch tausend tolle Sachen ausdenken – aber daran ändert ihr nichts: Euer Leben und eure Welt sind zerbrechlich. “

Es ist schwer, das auszuhalten. Das erlebe ich zur Zeit besonders intensiv. Und ich verstehe die Freunde von Jesus, die es nicht wahrhaben wollten.

 

Jesus aber wusste es. Er wusste, was geschehen würde. Und genau deswegen kann er annehmen, was die Frau für ihn tut. Weil es in diesem Moment, in seiner Unsicherheit, Verletzlichkeit und Angst genau das richtige ist. Das, was er braucht. Was ihm gut tut.

Und wieder fühle ich mich ertappt: Wie wenig Gespür habe ich oft für solche Momente. Für die Situationen, in denen ich nicht planen und rechnen muss, sondern einfach da sein. Spüren, was nötig ist, mitfühlen und mitleiden. Zärtlich nahe sein. Freigiebig verschenken, was ich habe.

Der namenlosen Frau gelingt das. Und damit wird sie mir genau jetzt in der aktuellen Situation zu einem besonderen Vorbild.

 

Liebe Gemeinde,

ich merke, wie diese Geschichte von der Salbung in Betanien in mir große Sehnsucht weckt. Sehnsucht nach solchen Momenten wie zwischen der Frau und Jesus: Selbstvergessene, leichte, schwebende Momente, in denen nichts wichtiger ist als das Jetzt. Momente, in denen es duftet nach Leben, in denen die Vögel zwitschern und die Sonne scheint, mir jemand zulächelt und alles andere darüber vergessen ist.

Wir brauchen solche Momente. Und wir werden sie noch dringender brauchen, je länger dieser verrückte und bedrückende Ausnahmezustand anhält. Je größer die Angst und die Belastungen werden, umso mehr brauchen wir solche Pausen. Momente, in denen wir nicht planen und rechnen, nicht tun, was wichtig und vernünftig ist, sondern das, was in dem Moment richtig ist – für mich, für dich und für Gott.

Jesus lässt zu, was die Frau für ihn tut. Ja, er scheint es zu genießen. Es ist gut, was sie tut, es ist wichtig, sagt er den meckernden Jüngern. Das heißt für mich: Auch ich darf solche Momente genießen. Und ich darf sie verschenken. Im Garten sitzen und die Sonne spüren und für fünf Minuten Corona einfach vergessen. Die Kinder schnappen und in den Wald gehen und es schön finden. Auf meinem Sofa sitzen und mich über die gewonnene Zeit freuen. Nicht das nächste Angebot für die Gemeinde entwickeln, sondern um sieben Uhr die Kerze anzünden und einen Moment auf die Glocken lauschen. Jemanden anrufen, obwohl ich eigentlich – mal wieder – keine Zeit dafür habe. Einen lange überfälligen Brief schreiben.

Das sind die Momente, die wirklich zählen. So, wie das, was die namenlose Frau für Jesus tut, das ist, was wirklich zählt: Überall auf der Welt erzählt man davon – wie Jesus es vorausgesagt hat.

 

Ich merke aber auch, dass die Geschichte noch eine ganz andere Sehnsucht in mir weckt: die Sehnsucht nach Jesus, nach Gott. Ich beneide die Frau, die mit ihren Händen seine Haare berühren und ihn salben durfte. So nah wäre ich ihm auch gerne.

Das ist ja genau das, was wir in der Passionszeit besonders versuchen: Uns zu besinnen auf Gott. Uns über Fasten und Verzicht bewusst zu werden, was wirklich wichtig ist und dadurch Gott näher zu kommen. Ich sage mit Absicht „wir versuchen es“ – denn in dieser verrückten Passionszeit gelingt es mir noch weniger als sonst. Es ist noch mühsamer als in normalen Zeiten, im Alltag zu erleben, dass da einer ist, der mich mit all meiner Verletzlichkeit in seinen guten Händen hält. Und wie soll es erst Ostern werden ohne unseren Frühgottesdienst in der aufgehenden Sonne? Was wird da überhaupt zu spüren sein vom Wunder der Auferstehung?

Die Tage sind so voll mit Corona, Ängsten, Hochrechnungen und neuen Herausforderungen, da ist so wenig Platz für Gott.

 

Umso größer ist aber meine Sehnsucht. Und genau das ist eine Chance: die Chance, mich nicht völlig zu verlieren und zu verrennen in den Sorgen und den Plänen des Alltags. Mich nicht ersticken zu lassen von ungewohnter Arbeit, anstrengender Kinderbetreuung und den neusten Nachrichten im Netz. Sondern diese Sehnsucht in mir zu spüren und zu wissen: Da gibt es mehr. Da ist noch jemand. Jemand, der es zulässt, dass ich ihm nah komme. Jemand, der will, dass ich ihn zärtlich berühre. Jemand, der mir nahe sein möchte.

Vielleicht brauchen wir grade jetzt in diesen verrückten Zeiten solche Sehnsucht und solchen Glauben: Die Sehnsucht nach ihm, nach Jesus, der für uns gelebt hat, mit uns leidet und für uns aufersteht. Und den Glauben daran, dass er uns auch jetzt nahe ist. Zum Berühren nah. Jeden Moment.

Amen.

 

 

Liedvorschläge zum anhören oder mitsingen:

NL 116 „Da wohnt ein Sehnen tief in uns“

anzuhören auf https://m.youtube.com/watch?v=VJ9u0JLPaDk

 

NL 221 „Wo ich auch stehe“

anzuhören auf https://www.youtube.com/watch?v=6Tr3h5Sonhc

 

EG 314 „Jesus zieht in Jerusalem ein“

anzuhören auf https://www.youtube.com/watch?v=SF3dlS1GReI

 

EG 91 „Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken“

anzuhören auf https://www.youtube.com/watch?v=nFPFV0NuFsg