Um 15 Uhr unter dem Kreuz auf dem Gengenbacher Friedhof wurde diese Ansprache über das “Hören unter dem Kreuz” von Pfarrer Moritz Martiny gehalten.

Eröffnung und Evangelium
Die Totenglocken läuten.

Es ist 15 Uhr. In biblischer Zählung die neunte Stunde des Tages. Hört, was die um das Kreuz von Golgatha Versammelten vor bald 2000 Jahren erleben mussten.

In der neunten Stunde schrie Jesus laut:»Eloi, Eloi, lema sabachtani?« Das heißt übersetzt: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Als sie das hörten, sagten einige von denen, die dabeistanden: »Habt ihr das gehört? Er ruft nach Elija.« Einer lief hin und tauchte einen Schwamm in Essig. Den steckte er auf eine Stange und hielt ihn Jesus zum Trinken hin. Er sagte: »Lasst mich nur machen! Wir wollen mal sehen, ob Elija kommt und ihn herunterholt.«
Aber Jesus schrie laut auf und starb.

Stille

Eröffnung und Votum
Es war die neunte Stunde des Tages. In unserer Zählung 15 Uhr. Wir sind versammelt um das Kreuz.
Hier am Fuße dieses Kreuzes berührt uns das Sterben Jesu, des Christus.

Hier, am Fuße des Kreuzes, sind wir versammelt, im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen

Predigt
„Habt ihr das gehört?“
fragten einige unter dem Kreuz, hatten aber das Falsche gehört.
Manchmal lohnt es sich, genau zu hören.
Am Anfang des Gottesdienstes haben wir bewusst die Glocken gehört, wie sie zur Sterbestunde läuten.
Aber da waren auch ganz viele andere Geräusche: Vögel haben gezwitschert, Kies hat unter Schuhen geknirscht, … (weitere aktuelle Beispiele)
Andere Geräusche fehlen: Ein Gottesdienst ohne Musik, manchmal kann man sogar die Stille hören.
In den wenigen Versen, die von den Sekunden vor Jesu Tod berichten, spielt das Hören eine große Rolle. Teilweise ausdrücklich erwähnt, teilweise stillschweigend vorausgesetzt.
Mit solch einem stillschweigend vorausgesetzten Hören geht es los. Jesus ruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Das ist mein persönlicher Lieblingssatz der Bibel.
Diese Worte zeigen geballt, wie sehr Gott Mensch geworden ist.
Von Weihnachten bis Karfreitag, von Geburt bis zum Tod: Jesus ist durch und durch menschlich.
Geboren zwischen Vieh als Kind ganz normaler Eltern. Ohne Glanz und Gloria.
Gestorben, verreckt unter schrecklichen Schmerzen, verachtet, verraten und im Stich gelassen.
Dieser Jesus kennt alles menschliche Leid aus eigener Erfahrung. Gott hat das Leid am eigenen Leib erfahren.
Das an sich ist schon eine Sensation.
Mit diesen letzten Worten aber geht es noch weiter.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ das heißt, Jesus weiß, wie es sich anfühlt gottverlassen zu sein.
Gott kennt sogar bange Gottverlassenheit.
Diesem Gott kann ich vertrauen, denn er weiß, was es heißt, als Mensch zu leben.
Aber noch aus einem zweiten Grund halte ich diesen Satz für eine Sensation. Und da kommt das stillschweigend vorausgesetzte Hören zum Tragen.
Jesus fühlt sich von Gott verlassen.
Und trotzdem geht er doch davon aus, dass Gott ihn hört. Ansonsten würde dieser Satz keinen Sinn ergeben.
Wozu sollte man mit jemandem reden, der nicht da ist und der einen nicht hören kann.
Es ist fast paradox, was Jesus hier ruft.
Entweder hat Gott ihn verlassen, aber dann bräuchte Jesus ihn nicht anrufen.
Oder Gott ist da und hört, was Jesus hier ruft, aber dann hat er ihn nicht verlassen.
Und so ist dieser Satz gleichzeitig ein Zeichen für die gefühlte Gottverlassenheit und die trotzdem gefühlte Gottesnähe. Und das aus Gottes eigenem Mund.
Wie gesagt, mein Lieblingssatz der Bibel. Besser kann man Glauben und Zweifeln, Hoffen und Verzagen nicht in Worte fassen.
Aber während Gott zuhört, hören die Menschen unter dem Kreuz etwas ganz anderes
„Habt ihr das gehört?“ – fragen sie einander.
Aber statt „Elo-i“ oder „El-i“, das heißt „Mein Gott“ hören sie hier ein „Elija“.
Elija, der Prophet aus dem Alten Testament, wurde damals gerne als Helfer der Notleidenden angerufen. Hinter diesem Verhörer steht aber auch eine alte Prophezeiung: Bevor der Messias erscheint soll der Prophet Elija wiederkommen.
Darum wollen sie Jesus hier mit etwas Essigwasser am Leben erhalten, um Elija die Chance zu geben, noch rechtzeitig zu kommen.
Ob die Menschen unter dem Kreuz absichtlich das Falsche gehört haben und Jesu Leiden bösartig verlängern wollten oder ob es unabsichtlich war und ein letzter Versuch, ob er nicht doch der Messias ist: Gehört haben sie das Falsche.
Wie dem auch sei. Das nächste, das zu hören ist, kann nicht falsch verstanden werden:
Jesus schreit.
Er schreit alle Luft aus seinen Lungen heraus.
Er schreit sein ganzes Leben heraus.
Mit diesem Schrei schwindet auch das Leben aus Jesus. Er ist tot.
„Habt ihr das gehört?“ – Es gibt viel zu hören hier am Fuße des Kreuzes und im Bericht vom Kreuz auf Golgatha.
Was hören wir?
Was hört ihr am Karfreitag des Jahres 2021?
Ich fürchte es geht mir ähnlich wie der Menge unter dem Kreuz: Ich höre das Falsche, verhöre mich.
Denn in diesem Jahr höre ich in mir drin und um mich herum nur „Corona, Corona, Corona“
Egal was gesagt wird, egal welche Geräusche um mich sind, schnell ist dieses Wörtchen da.
Hätte ich in diesem Jahr innerlich wie äußerlich jedes mal statt „Corona“ „Mein Gott“ gehört, ich wäre ein wirklich frommer Mann.
Vielleicht geht es uns gerade wie den Menschen unter dem Kreuz. Vielleicht hören wir gerade nur das, was wir zu hören meinen.
Ich wünsche mir von dieser Karwoche und noch mehr vom Osterfest, dass ich genauer hinhöre und mehr von Gott höre.
Amen