Christmette, 24.12.2021, 23:00 Uhr
Thema: „Es ist ein Ros entsprungen“
Pfarrerin Deborah Martiny
Erste Lesung: Jesaja 11,1+2
700 Jahre vor der ersten Heiligen Nacht hat der Prophet Jesaja eine Vision. Er sieht das Volk Israel am Boden liegen. Zerstört, abgestorben wie ein abgehauener Baumstumpf. Aber an diesem Baumstumpf geschieht ein Wunder:
„Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN.“
Zweite Lesung: Lukas 2,1-20
Viele hundert Jahre später erfüllt sich, was Jesaja gesehen hat. Ein winziger Reis, ein neuer Trieb – ein kleines Kind in einer Krippe.
In die Wirklichkeit des Todes hinein schickt Gott seinen Sohn, der der Welt das Leben bringt:
„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.“
Besinnung
Jesaja spricht von einem Baumstumpf, einer Wurzel.
Was für uns in der Übersetzung recht harmlos klingt, war für ihn ein Bild der Vernichtung und des Todes. Ein Bild für das Ende:
Nicht nur einfach ein Stumpf – sondern ein abgehauener Baum. Wo früher Leben war, ist jetzt Tod. Wo früher Früchte hingen, fault jetzt alles vor sich hin. Dunkles Schwarz statt hellem Grün.
Und auch die Wurzel ist für Jesaja keine lebendige Wurzel. Keine Wurzel voller Saft und Kraft, die eine Pflanze nährt und stützt. Diese Wurzel ist ein abgestorbenes Stück Holz. Im Finstern der Erde verdorrt. Nutzlos und tot.
Ein starkes Bild für das, was damals in Israel geschah.
Ein Bild auch für das, was heute auf der Welt geschieht?
2700 Jahre nach Jesaja ist die Welt nur bedingt besser geworden. Ja, uns geht es gut. Meistens jedenfalls. Besser als den Menschen damals in Israel unter der Besatzung der Babylonier.
Aber was ist mit den Menschen in Syrien? In Palästina und Israel? In Afghanistan oder in Äthiopien?
Die Welt ist noch längst nicht gut: Hungerkatastrophen, eine Pandemie, unzählige Menschen auf der Flucht, Streit und Unfrieden.
So viele abgestorbene Wurzeln, zerhauene Baumstämme.
Der Prophet Jesaja hat damals aber noch mehr gesehen: Er sieht einen Reis – einen kleinen neuen Trieb. Er sieht einen, einen einzigen Zweig, der Frucht bringt. Ganz zart noch, verletzlich, winzig klein. Zaghaftes Grün, dass sich gegen das Dunkel kaum abhebt und trotzdem da ist. Sichtbar ist. Lebt und wächst und blüht.
Neues Leben – so klein und zerbrechlich und trotzdem unaufhaltsam.
Es ist ein Wunder, was der Prophet da sieht.
Ein ganz, ganz kleines Wunder ist es, von dem Jesaja hier erzählt. Nur ein neuer, kleiner Trieb. Nur ein zaghaft blühender Zweig.
Mehr nicht. Ein ganz unscheinbares Wunder, winzig und alltäglich – und doch groß und unfassbar.
Ein Wunder so klein und zerbrechlich – so groß und unfassbar – wie ein neugeborenes Kind.
Wie DAS neugeborene Kind, dass später so genannt werden wird:
Reis aus Zion, Wurzel Jesse.
Was Weihnachten geschieht, ist ein Wunder.
Kein großer Paukenschlag, der die Welt auf einmal verändert.
Kein großer König auf einem Streitross.
Sondern ein kleiner, kaum merklicher Anfang.
Ein leises, zartes Wachsen und Blühen.
Ein kleines Kind in einer Krippe.
Weihnachten – das ist nicht die große gewaltige Veränderung der ganzen Welt. Was Weihnachten geschieht ist klein, unspektakulär.
So wie eine Geburt eben ist: ein ganz natürlicher Vorgang, alltäglich. Millionenfach schon passiert. Jeder von uns wurde genauso von einer Frau geboren wie Jesus von Maria im Stall geboren wird. Ganz normal. Nichts Besonderes…
Und trotzdem ist eine Geburt, jede Geburt, immer und immer wieder ein Wunder – unfassbar, wunderschön, geheimnisvoll.
Wer je ein Neugeborenes im Arm gehalten hat, der weiß: Es ist ein Wunder, wie klein das Leben beginnt. Es ist ein Wunder, wie zerbrechlich und gleichzeitig stark ein neugeborenes Kind ist. Es ist ein Wunder zu sehen, wie es wächst und gedeiht und lebt.
Von so einem kleinen – großen Wunder erzählen Jesaja und Lukas. Der Prophet und der Evangelist.
Mit ihren Bildern und Geschichten öffnen Sie uns heute an Weihnachten die Augen für solche Wunder:
Sie öffnen uns die Augen für das Kleine: Für Gott in einem Kind. Für Gottes Liebe in den kleinen Dingen des Alltags. Für Freude in Kerzenschein und Tannenduft. Dafür, wie wir mit kleinen Worten und Gesten für andere Menschen etwas heil machen können. Dafür, wie wir die Welt im Kleinen verändern können – damit sie eines Tages ganz neu werden kann.
Sie öffnen uns die Augen für das Wunder in unserer Alltäglichkeit: Dafür, dass Gott da ist, wo wir ihn am wenigsten vermuten. Dass er genau dahin kommt, wo wir ihn so dringend brauchen, oft ohne es zu merken – wo unser Leben mühsam ist und aufreibend oder langweilig und schal. Wo wir einsam sind. Uns verlieren im Alltag – genau da findet uns der Gott, der seinen Sohn in eine Futterkrippe legt.
Jesaja und Lukas öffnen uns die Augen auch für das, was im Stillen geschieht: Wie Menschen leise und unauffällig tun, was Gott will. Wie Gottes sein Wort für uns spricht: Unaufgeregt, zart, manchmal kaum zu hören und doch immer da – fragend und rufend und jubelnd: Fürchtet Euch nicht! Denn Euch ist heute der Heiland geboren.
Weihnachten beginnt ganz klein. Ein kleiner knospender Zweig.
Aber dann wächst es und blüht.
Ein kleiner Reis, ein neuer Trieb.
Später wird aus dem Reis eine Rose.
Ein unbekannter Liederdichter nimmt sich die Freiheit, aus dem Reis die Rose zu machen.
Das Wunderhafte von Weihnachten wird so noch eindrücklicher:
Rosenduft, dunkles Rot, die Blume der Liebe.
Die Blume des Lebens.
Weihnachten verheißt uns, dass das Leben siegt.
In all seiner Zerbrechlichkeit und seiner Zartheit, seiner Bedrohtheit und Verletzlichkeit wird am Ende das Leben siegen und wachsen und blühen.
So soll es auch heute, hier bei uns sein:
Die Weihnachtsfreude soll groß werden.
Der Frieden dieser Nacht soll wachsen in uns.
Die Hoffnung wollen wir pflegen und hegen.
Das Leben soll wachsen und blühen.
Das Leben, dass mit einem kleinen Kind in einer einfache Krippe seinen Anfang nimmt.
Amen.