Predigt über Ez 34* am Sonntag Miserikordias Domini (18.04.2021)
Pfarrerin Deborah Martiny
Wochenpsalm
Der Wochenpsalm für die heute beginnende Woche ist der Psalm 23:
Der HERR ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße
um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch
im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl
und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit
werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben
im Hause des HERRN immerdar.
Amen.
Predigt
„Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“
Was für eine Zuversicht. Geborgenheit, Sicherheit. Zuhause sein.
Der Psalm 23 rührt bei mir – wie bei vielen Menschen – an Kindheitsgefühle: Meine Mutter, die uns abends beim Insbettbringen vorgesungen hat. Mein Vater, der alles reparieren konnte und immer eine Lösung hatte.
Solche Erinnerungen, solche Grundgefühle der Kindheit sind bei mir sofort wieder da, wenn ich den Psalm 23 höre. „Der Herr ist mein Hirte…“
Auch in unserem Predigttext für heute geht es um Hirten und um Schafe. Aber hier klingt das alles ganz anders. Auf einmal ist es gar nicht mehr so gemütlich und schön…
Ich lese aus dem Buch des Propheten Ezechiel, einige ausgewählte Verse aus dem 34. Kapitel, in der Übersetzung der Basisbibel:
„Das Wort des Herrn kam zu mir: Du Mensch, rede als Prophet zu den Hirten von Israel. Ja, rede als Prophet und sag zu ihnen, den Hirten: So spricht Gott, der Herr! Ihr Hirten von Israel, ihr weidet euch ja selbst. Weiden Hirten sonst nicht die Schafe? Ihr aber esst das Fett und macht euch Kleider aus der Wolle. Doch ihr weidet die Schafe nicht! Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt und die Kranken nicht geheilt. Verletzte habt ihr nicht verbunden und verirrte Schafe nicht eingefangen. Schafe, die sich verlaufen haben, habt ihr nicht gesucht. Mit Stärke und Gewalt wolltet ihr sie beherrschen. (…) Darum, ihr Hirten, hört das Wort des Herrn (…): Seht her, ich werde meine Schafe suchen und mich selbst um sie kümmern. Ich mache es genauso wie ein guter Hirte, wenn seine Schafe sich eines Tages zerstreuen. Ja, so werde ich mich um meine Schafe kümmern. Ich rette sie von allen Orten, an die sie zerstreut waren – an dem Tag, der voll finsterer Wolken sein wird. Ich führe sie weg von den Völkern und sammle sie aus den Ländern. Ich bringe sie zurück in ihr eigenes Land. Ich werde sie auf den Bergen und Tälern Israels weiden, an allen Weideplätzen des Landes. Ihr Weideland wird auf den hohen Bergen Israels liegen. Ja, ich lasse sie dort auf gutem Weideland lagern. Auf den Bergen Israels finden sie eine grüne Weide. Ich weide meine Schafe und ich lasse sie lagern. (…) Verirrte suche ich und Verstreute sammle ich wieder ein. Verletzte verbinde ich und Kranke mache ich stark. Fette und Starke aber vernichte ich. Ich weide sie nach Recht und Gesetz. (…) Ihr seid meine Herde! Ihr Menschen, ihr seid die Herde auf meiner Weide, und ich bin euer Gott! – So lautet der Ausspruch von Gott, dem Herrn.“ (Ez 34,1-4.7.11-16.31)
Hier geht es zuerst um die menschlichen Hirten. Und die kriegen mal so richtig die Meinung gesagt. Ich merke, wie ich da sofort drauf anspringe: Impfchaos, Corona-Regel-Wahnsinn, Maskenaffäre… über unsere politischen „Hirten“ könnte man ja grade einiges sagen! Über die kirchlichen aber auch: Missbrauchsskandal, Vertuschung, goldene Badezimmer…
Mein erster Impuls ist: Toller Predigttext – da kann ich mal so richtig ablästern über „die da oben“ und das auch noch mit dem gute Gefühl, total im Recht zu sein, weil Gott das ja auch so sieht und sagt!
Aber Stopp! Wer bin ich denn? Bin ich der Prophet? Ganz sicher nicht. Der Predigttext kann keine Aufforderung sein, dass wir uns zu Prophetinnen und Propheten machen und Ezechiels Worte einfach mal so völlig unreflektiert auf unsere Zeit übertragen.
Wenn ich den Text ernst nehme, bin ich ein Schaf. Sind wir alle Schafe: „Ihr seid meine Herde!“
Oder?! Sind wir nicht – wenn wir ehrlich sind – manchmal auch Hirten?
Vorgesetzte? Lehrer? Vorsitzende? Verantwortungsträger? Eltern? Pflegende…?
Wer Kinder großzieht oder Angehörige pflegt oder Menschen ausbildet oder anleitet… der ist auch immer ein bisschen Hirte.
Klar, wir sind nicht die großen Politiker, Kirchenfürsten, Wirtschaftsbosse. Wir entscheiden nicht über Millionenbeträge und die neuen Corona-Regeln. Aber auch wir haben Macht über andere. Über unsere Kinder, unsere Schüler, unsere Patienten, unsere Kunden, unsere Freunde. Unseren Partner. Alles Menschen, die wir verletzen oder heilen können mit dem, was wir tun und nicht tun. Alles Menschen, für die wir Verantwortung tragen. Die uns anvertraut sind – so wie einem Hirten Schafe anvertraut werden.
Entsprechend müssen auch wir uns messen lassen an dem, was Ezechiel hier in Gottes Auftrag fordert: „Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt und die Kranken nicht geheilt. Verletzte habt ihr nicht verbunden und verirrte Schafe nicht eingefangen. Schafe, die sich verlaufen haben, habt ihr nicht gesucht. Mit Stärke und Gewalt wolltet ihr sie beherrschen.“
Durchaus eine Parole, die sich auch heute noch manche Politiker mal auf die Fahnen schreiben sollten – siehe fehlende Investitionen in Schulen, Niedriglöhne in der Pflege und mangelnde Integration von Geflüchteten.
Aber eben auch eine Parole, die wir alle uns auf die Fahnen schreiben sollten: stärken, heilen, verbinden, suchen.
Gott als der gute Hirte ist hier im Predigttext ganz schön anspruchsvoll. Er lässt uns nicht einfach als Schafe mitlaufen. Nein, Gott fordert auch von uns „Hirtendienste“! Und das nicht zu knapp.
Liebe Gemeinde,
am Anfang habe ich gesagt, dass Gott als der gute Hirte Kindheitserfahrungen in mir anspricht. Erfahrungen von Geborgenheit und Sicherheit, die ich als kleines Mädchen machen durfte. Wichtige und grundlegende Erfahrungen.
Jetzt im Predigttext geht es um etwas ganz anderes: Es geht um das Erwachsenwerden.
Ich vermute, dass Ihr Konfis dazu eine ganze Menge zu sagen hättet. Irgendwann fangen die unkomplizierten Beziehungen der Kindheit an, kompliziert zu werden. Man merkt: Die eigenen Eltern sind nicht die großen Helden, für die man sie jahrelang gehalten hat. Sie können einen nicht vor allem beschützen. Sie sind selbst oft genug hilflos und überfordert.
Auch Freundschaften werden schwieriger, Vertrauen ist auf einmal nicht mehr so selbstverständlich. Die Mädchen bzw. die Jungs werden interessanter und damit wird vieles neu und unsicher…
Und immer klarer wird: Ich muss etwas tun. Ich muss gestalten. Mich verhalten. Mich entscheiden. Mir klar werden, was ich will. Wie ich mit Menschen umgehen will. Mit wem ich zusammen sein will. Immer mehr Freiheiten, immer mehr Entscheidungen – aber eben auch immer mehr Verantwortung.
Deshalb wird die Konfirmation ja auch in dieser Lebensphase gefeiert. Weil wir grade dann, wenn wir anfangen, erwachsen zu werden, Macht zu haben, Entscheidungsfreiheit zu haben – grade dann Gott besonders brauchen.
Gott, der uns sagt, wie wir leben sollen.
Gott, der es uns nicht leicht macht damit.
Der ganz schön was von uns will.
Von Euch Konfis – aber von uns anderen natürlich genauso.
Wir sind alle immer wieder auch Hirten. Ob wir gute oder schlechte Hirten sind – das liegt in unserer Hand.
Und trotzdem gilt, was Gott am Ende des Predigttextes sagt und was der Psalm 23 uns verspricht:
„Ihr seid meine Herde! Ihr Menschen, ihr seid die Herde auf meiner Weide, und ich bin euer Gott!“
Und zack, sind sie wieder da: Die Gefühle der Kindheit. Die Geborgenheit und die Sicherheit. Das wohlige Gefühl, nicht allein zu sein.
Wir sind Gottes Herde. Wir gehören zu ihm.
So wie ein Kind zu seinen Eltern gehört.
Und so, wie wir früher unseren Eltern vertraut haben in dem Wissen: Sie kümmern sich um mich, sie umsorgen mich und lieben mich und sind immer für mich da.
So gehören wir jetzt zu Gott und so können wir ihm jetzt vertrauen.
Zum Erwachsen werden gehört nicht nur dazu, Verantwortung zu übernehmen für andere. Es gehört auch dazu, neu vertrauen zu lernen.
Die alten Sicherheiten der Kindheit sind weg.
Wir haben gelernt: Jeder Mensch ist fehlbar.
Ich kann verletzen und kann verletzt werden.
Wir haben aber auch gelernt:
Ohne Vertrauen, ohne Nähe können wir nicht leben.
Die Sehnsucht nach Geborgenheit und Sicherheit, die wird ja nicht kleiner, nur weil unsere Eltern sie nicht mehr erfüllen können.
Die wird größer.
Und am Ende gibt es nur einen, der diese Sehnsucht stillen kann:
Gott, unser guter Hirte.
Liebe Gemeinde,
Gott als der gute Hirte – diese Bild spannt den Bogen ganz weit auf:
Von der Geborgenheit der Kindheit bis zur Verantwortung eines Lebens als erwachsener Mensch.
Wo in diesem Bild wir uns befinden, ist verschieden.
Das ändert sich manchmal ja von einer Minute zur nächsten.
Aber es ist der feste Rahmen, in dem wir als Christen leben.
Die Beziehung zu Gott, unserem guten Hirten, bleibt.
Ein guter Hirte verlässt seine Schafe nicht.
Nicht im dunklen Tal und nicht auf rechter Straße.
Gutes und Barmherzigkeit werden uns folgen unser Leben lang.
Amen.