Impuls zur Weihnachtskarte „Fürchtet euch nicht!“

von Pfarrerin Deborah Martiny

„Fürchtet euch nicht!“ ruft der Engel den Hirten zu.

Er ruft es auch mir zu. Und ich denke:

Vielleicht habe ich diese Botschaft noch nie so gebraucht wie in diesem Jahr.

Im Jahr der Pandemie, der Infektionszahlen, der Beatmungsgeräte, der Schulschließungen und der Maskenpflicht.

In diesem Jahr, in dem die Angst allgegenwärtig ist.

Fürchtet Euch nicht.

Habt keine Angst.

Ich habe in den vergangenen Monaten viel über meine Angst und die Angst der Menschen gelernt.

Vor allem: Meistens ist sie kleinlich und dumm.

Was sind meine Sorgen um unsere Heiligabendgottesdienste im Vergleich zu den Sorgen einer Mutter um ihren Sohn, der seit 2 Wochen darum kämpft, atmen zu können?

Was sind meine Ängste, wie es mit der Gemeinde weitergeht im Vergleich zu dem, was Menschen erleben, die ihre Arbeit verlieren? Ihr Geschäft aufgeben? Ihre Miete nicht mehr zahlen können?

Wie gesagt: kleinlich und dumm.

Aber ich habe noch etwas gelernt in der Krise:

Egal wie kleinlich und dumm meine Angst ist, sie ist da.

Und sie hat Macht.

Ob sie nun kleiner oder größer ist als die Angst der Corona-Kranken.

Ob sie nun kleiner oder größer ist als die Angst der Hirten auf dem Feld.

Sie ist da.

Und sie setzt mir zu.

Angst kostet uns Kraft.

Angst laugt uns aus.

„Wir sind doch grade erst dabei, die Erschöpfung vom Frühjahr abzuarbeiten und jetzt geht es schon wieder los.“ sagte neulich eine Mitarbeitende zu mir. Und ich verstehe sofort, was sie meint.

Angst ist anstrengend, nervenaufreibend und unglaublich schwer zu ertragen.

Das ging den Hirten damals nicht anders als uns heute.

Vielleicht fällt es uns deshalb oft so schwer, mit unserer Angst umzugehen:

Ich passe im Sommer beim Umsteigen auf dem Bahnhof einen Moment nicht auf, komme einer Frau zu nahe und sie schnauzt mich an: „Das muss doch jetzt echt nicht sein!“ Ich kann mich grade noch beherrschen, nicht wütend zurück zu schimpfen.

Hätte sie gesagt: „Bitte halten Sie Abstand, ich habe solche Angst mich anzustecken, ich pflege meine Mutter, ich darf meinen Job nicht verlieren, ich habe Panik davor, keine Luft zu bekommen….“ Ich hätte ganz anders reagiert. Ihr vielleicht gesagt: „Ja, ich habe auch Angst. Nicht um mich, aber davor, andere anzustecken. Es tut mir so leid.“ Und wir hätte uns angesehen und verstanden und wären mit dem Gefühl auseinandergegangen, etwas Wichtiges miteinander geteilt zu haben. So sind wir beide mit Wut im Bauch auseinander gegangen.

Vielleicht ist das das Wichtigste, was ich über die Angst gelernt habe in dieser Pandemie – über meine Angst und über die der anderen: Je mehr wir sie verdrängen, verleugnen, in Aggression oder Depression ummünzen – umso größer wird ihre Macht.

Deshalb klingt mir das „Fürchtet Euch nicht!“ des Engels in diesem Jahr besonders laut in den Ohren. Der Engel nennt die Angst beim Namen. Er tut damit das, was uns so oft nicht gelingt. Er sagt zu den Hirten: Ich sehe, ihr habt Angst.

Ich merke in diesem verrückten Jahr und dieser Corona-gebeutelten Welt der letzten Monate, wie mich das erleichtert. Wenn ich zugeben kann, dass ich Angst habe. Oder es zumindest zulassen kann, dass jemand anders es für mich ausspricht.

Dass der Engel für mich und zu mir sagt: „Ich sehe, dass du Angst hast.“ – das nimmt mir eine große Last von der Seele, das macht meine Angst schon viel kleiner und erträglicher.

Es geht ja auch nicht darum, ganz ohne Angst zu leben.

Im Jahr 2020 nicht und noch nie.

Ein Leben ganz ohne Angst wäre ja auch nicht möglich.

Die Angst ist ein guter Instinkt, sie sichert uns Menschen seit Jahrtausenden das Überleben.

Menschen ohne Angst sind nicht überlebensfähig, weil sie keine Grenzen kennen und keine Gefahren einschätzen können.

Ohne Angst können wir nicht leben.

Aber wir können lernen, mit ihr umzugehen.

Ihr die Stirn zu bieten, wenn sie zu groß wird.

Ihr keine unnötige Macht in unserem Leben zu geben.

Trotz der Angst besonnen und mutig weiterzumachen.

Entscheidungen für uns und unser Leben im festen Vertrauen auf Gott zu treffen.

Das alles können wir lernen.

Das ist in der Pandemie so wichtig wie nie.

Die Angst davor, mich anzustecken – und noch viel mehr die Angst davor, jemand anders anzustecken – die ist natürlich und gut. Sie schützt mich und andere.

Aber ich darf mich nicht von ihr lähmen lassen.

Die Weihnachtsbotschaft des Engels macht mir dazu Mut:

„Fürchtet euch nicht, denn euch ist heute der Heiland geboren!“

Wenn ich das höre, hilft mir das.

Es hilft mir, aufzuatmen: Da ist einer, der sieht meine Angst.

Es hilft mir, aufzusehen: Die Angst hat keine Macht über mich, denn die hat nur Gott.

Und es hilft mir, mich aufzurichten: Ja, Weihnachten kommt. Jesus Christus kommt.

Größer als alle Angst der Welt ist die Hoffnung.

Und die Freude – die Freude, dass Gott selbst zu mir kommt.

Ich werde ihm in diesem Jahr nicht ohne Angst entgegengehen können.

Aber ich werde ihm entgegengehen.

Mit meiner Angst, aber aufrecht und voller Vertrauen.

Und mit der Botschaft des Engels im Ohr:

„Fürchtet Euch nicht, denn Euch ist heute der Heiland geboren!“

Amen.